Beim Bundespräsidenten

Wer als Ehrenamtlicher einmal die Ehre hat, zum Bürgerfest des Bundespräsidenten nach Berlin eingeladen zu werden, darf sich glücklich schätzen. Wir haben diese ganz besondere Ehre nun schon zum zweiten Mal erfahren: Nach Joachim Gauck 2016 hatte uns nun auch Frank-Walter Steinmeier zum Bürgerfest des Bundespräsidenten an seinen Amtssitz Schloss Bellevue eingeladen. Emily und ich haben ein paar sehr schöne Tage in der Hauptstadt verbracht und die Gelegenheit genutzt, auch noch liebe Freunde von uns zu besuchen.
Es waren übrigens sehr heiße Tage. Kühle Getränke und Eis waren daher auch beim Bürgerfest am Freitag, 30. August, besonders heiß begehrt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte rund 4000 Ehrenamtlichen aus ganz Deutschland eingeladen, um ihnen für ihren Einsatz für unsere Demokratie zu danken. Hier die Rede unseres Bundespräsidenten im Wortlaut:

Sie glauben gar nicht, was das für ein toller Ausblick ist von hier vorne! Herzlich willkommen im Park von Schloss Bellevue! Herzlich willkommen in Berlin, dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer! Willkommen in der Hauptstadt unseres vereinten Landes! Herzlich willkommen auf Ihrem Bürgerfest!
Ein großes Hallo an unsere beiden Partnerländer aus dem hohen Norden und aus dem tiefen Westen, Finnland und Nordrhein-Westfalen. Wir freuen uns, dass Sie dabei sind, und wir freuen uns, dass wir mit Ihnen gemeinsam heute Abend kräftig feiern dürfen. Für Ihre Beiträge sagen meine Frau und ich Ihnen von ganzem Herzen danke, und wir alle sagen: Herzlich willkommen, liebe Freunde aus Finnland und aus Nordrhein-Westfalen!
Unser Motto für dieses Fest heißt „Lust auf Zukunft“.
Wer von Ihnen in diesen Tagen Zeitung liest, wer die Nachrichten anschaut, im Netz unterwegs ist, der hat sich bei diesem Motto womöglich am Kopf gekratzt und gefragt: „Tickt der noch ganz richtig, der Steinmeier? Was für ’ne Lust auf Zukunft soll das denn sein? Haben wir nicht Probleme über Probleme? Brexit, Klimakrise? Ein Gefühl der Spaltung im Land zwischen Ost und West, Stadt und Land, Jung und Alt? Immer mehr Frust, immer mehr Populismus in ganz Europa? Und überall auf der Welt gefährliche Spannungen und Konflikte?“
Ja, das alles beschäftigt uns Deutsche. Es beschäftigt auch mich. Und dann zeigt vielleicht der eine oder andere auf dieses Motto und sagt: „Ist Bellevue echt so weit ab vom Schuss, dass der Präsident ihn schon gar nicht mehr hört?“
Nein, sage ich, sondern ganz im Gegenteil: jetzt erst recht! Gerade in einer Zeit des Zweifels brauchen wir neue Zuversicht! Gerade wenn die Fliehkräfte an unserer Gesellschaft zerren, dann müssen wir zusammenkommen aus Ost und West und Nord und Süd. Gerade wenn wir zu verzagen drohen, dann kommt’s auf die Beherzten an.
Dafür stehen Sie alle in diesem Park, dafür stehen die Engagierten in diesem Land, dafür steht dieses Bürgerfest, dafür wollen wir dieses große Fest feiern.
Wenn wir uns das Motto „Lust auf Zukunft“ nicht schon mit viel Vorlauf ausgedacht hätten, dann müssten wir es heute hier neu erfinden. Ich glaube – und ich weiß es von manchen von Ihnen –, dass viele hier das ganz ähnlich sehen.
Anders wäre nämlich nicht zu erklären, warum so viele Tausende und Abertausende in Deutschland sich jeden Tag, jede Woche, jeden Monat im Ehrenamt engagieren. Sich um die Nachbarschaft kümmern, Jugendmannschaften trainieren, Alte im Krankenhaus besuchen, Brauchtum pflegen, die Feuerwehr organisieren und – gerade auf dem Land – das Leben lebenswert halten. Sie, unsere Gäste heute Abend, stehen stellvertretend für all die Unverzagten, die Zupackenden in unserem Land.
Da sind die vielen Vereine, die sich hier heute zeigen, wo Menschen sich einbringen für Perspektiven auf dem platten Land genauso wie für Zivilcourage im Netz und vieles mehr. Da sind die Jüngsten unter uns, und der kleine Moritz aus Thüringen ist der Allerjüngste; seit Mai ist er auf der Welt. Seine Mama hat sich schon als Teenager ehrenamtlich im Sport engagiert, und sie tut‘s bis heute. Und da sind natürlich auch die Ältesten. Die meiste Lebenserfahrung bringt heute ein Ehrenamtlicher mit, der für die Freundschaft zwischen Deutschen und Polen einsteht. Das macht er seit Jahrzehnten. Er kommt aus NRW, und er ist Jahrgang 1928. 91 Jahre – schön, dass Sie gekommen sind! Das hat einen Sonderapplaus verdient.
Ich glaube, Sie und wir alle leben in Wahrheit in guter Gesellschaft. Denn es gibt nicht nur die eine Art von Schlagzeilen in unserer Zeit. Leben wir nicht auch in einer Zeit, in der überall junge Menschen auf die Straße gehen und ihre Zukunft auf dieser Erde einfordern? Haben wir nicht erst im Mai erlebt, wie mehr Menschen als lange zuvor in Europa und für Europa an die Wahlurnen geströmt sind? Sehen wir nicht Menschen auf der ganzen Welt, von Moskau bis Hongkong, die fordern, dass man ihre Rechte ernst nimmt?
Alle diese Beispiele zeigen doch: Wer Mut zur Zukunft hat, der scheut auch den Streit nicht! Der weiß zu ringen um den besseren Weg, um die bessere Zukunft.
Das kennen Sie von Ihrem Ehrenamt, vom Arbeitsplatz und höchstwahrscheinlich sogar vom eigenen Abendbrottisch: Konflikte zu vermeiden, bringt uns der Lösung nicht näher.
Und dasselbe gilt, im Großen, in unserer Demokratie: Es bringt nichts, sich vor den Problemen wegzuducken. Es bringt schon gar nichts, sich die Wütenden und Frustrierten einfach wegzuwünschen. Sondern: Wer überzeugen will, muss streiten können.
Wichtig ist einzig und allein, dass jeder im Streit den Anderen achtet. Dass das bessere Argument zählt und nicht die lautere Parole, dass Vernunft, Respekt und Anstand ihre Geltung behalten im politischen Streit.
Denn da, wo Hass in die Sprache Einzug hält, ist der Weg zur Gewalt nicht weit. Das haben wir viel zu oft erlebt in den letzten Monaten. Ausgerechnet die Engagierten, die ehrenamtlichen Gemeinderäte, die sich nach Feierabend noch um die Öffnungszeiten im Schwimmbad, die Erneuerung der Kläranlage und die Ausbesserung von Gemeindestraßen kümmern, gerade die Bürgermeister, die sich niemals wegducken, die sich mitten in den Wind stellen, haben Beleidigung und Hass und Gewalt erleben müssen. Viele von Ihnen hatten wir gerade vor wenigen Wochen zum Gespräch hier.
Gemeinderäte und Bürgermeister sind kein Freiwild und nicht Fußabtreter der Frustrierten. Im Gegenteil: Zehntausende von ehrenamtlichen Mandatsträgern sind das Fundament, auf dem das Gebäude unserer Demokratie steht. Hass und Verrohung dürfen niemals Normalität werden in unserem Land!
Alle, die sich in unserer Demokratie und für unsere Demokratie engagieren, verdienen unseren Schutz und unseren Respekt! Gerade jetzt, vor zwei Wahlen an diesem Wochenende, kommt es darauf an.
Gerade Wahlen wünsche ich mir in unserer Demokratie, allem Streit zum Trotz, auch als Momente, in denen wir als Land zusammenkommen. Ja, manchmal hat man es satt und will, dass die Politik sich ändert. Diese Leidenschaft und der Streit um die Zukunft gehören dazu. Aber eins sage ich ganz deutlich: Treibt unser Land nicht auseinander!
Diese Verantwortung trägt jeder, der sich in unserem Land zur Wahl stellt, und an diese Verantwortung sollte auch jeder denken, der in die Wahlkabine geht. Denn auch die, die anderer Meinung sind, gehören am Tag nach der Wahl immer noch zu diesem Land und haben ein Wörtchen mitzureden an unserer Zukunft.
Gerade viele Ostdeutsche wissen doch noch zu gut, was es bedeutet, keine Wahl zu haben, einfach nur „falten zu gehen“, wie man das nannte, weil es eben keine Wahl bei der Wahl gab.
Und wir erinnern uns an die Mutigen, die das vor dreißig Jahren nicht mehr mitgemacht haben, die friedlich die Welt verändert haben – in Plauen, Leipzig, Berlin und an vielen anderen Orten.
Diesen Herbst feiern wir die Friedliche Revolution in Osteuropa, den Fall der Berliner Mauer, wir erinnern uns an die ungeheure Kraft der Freiheit, die sich damals auf unserem Kontinent entfaltet hat, und wir erinnern an das gewaltige Werk der deutschen Wiedervereinigung.
Wir erinnern uns – nicht, weil wir jetzt fertig sind mit unserer Einheit. Sondern, im Gegenteil, weil sie uns immer wieder aufs Neue fordert. Dort, wo schon alles fertig ist, muss keine Zukunft gemacht werden.
Nur wenn wir nichts tun, müssen wir Angst vor dem haben, was kommt. Aber das sind nicht wir. So kenne ich unser Land nicht.
Wir sind nicht kleinmütig und ängstlich. Wir sind neugierig auf das, was kommt, und wir packen an, damit gut wird, was kommt. Wer’s nicht glaubt, der schaue auf die Menschen, die geballte Kraft in diesem Park!
Ich freue mich, dass so viele gekommen sind, die sich einsetzen für unser Land, an diesem Nachmittag. Ich freue mich auf Begegnungen und Ihre Geschichten.